Freitag, 3. Januar 2014

Das Fest [1998]


Man stelle sich einmal folgendes Szenario vor: Man ist zu einem Verwandtschaftstreffen in einem Hotel auf dem Land eingeladen. Man sitzt zusammen und plötzlich steht der älteste Sohn des Geburtstagskindes im fortgeschrittenen Alter auf und fordert seinen Vater dazu auf, sich eine von zwei Reden auszusuchen, die der junge Mann in seinen Händen hält. Der Mann entscheidet sich für eine Rede, die der Sohn auch prompt vorträgt. Die Rede beginnt zwar ziemlich harmlos, doch schon schnell offenbart er seiner Verwandtschaft ein dunkles Geheimnis, das niemand wusste und nun vom Sohn bekannt gegeben wird, denn: Er beschuldigt seinen Vater, sich jahrelang an ihm und seiner vor kurzem verstorbenen Zwillingsschwester sexuell vergangen zu haben. Schlagartig wird es still im Saal und niemand kann so recht glauben, was er da gerade hört, als sie der Rede von Christian lauschen. 

Kaum hat der junge Mann geendet, wird er sofort vom Vater, und dadurch bestärkt, auch von der restlichen Verwandtschaft als Lügner oder gar als psychisch labil und somit nicht vertrauenswürdig hingestellt. Als er erneut auf sich aufmerksam machen will, wird er von seinem eigenen Bruder hinausgeworfen und an einen Baum gebunden. In der selben Zeit macht sich die Belegschaft des Hotels, die auf der Seite von Christian steht, daran, die Autoschlüssel von allen Anwesenden zu stehlen, sodass sie sich gewzungenermaßen Christians Martyrium und der Wahrheit um das Familienoberhaupt Helge stellen müssen. 

Mit "Das Fest" machte Thomas Vinterberg erstmals international auf sich aufmerksam. Da es sich um einen Stellvertreter des Dogma-Films handelt, wurde der Film dementsprechend nach den Vorschriften des Dogma-Manifests gedreht. Dies bedeutet: Originalschauplätze, keine musikalische Hintergrunduntermalung, nur Handkameras, keine Gewalt und Schauplatz in der Gegenwart. Dies hat zur Folge, dass es eine Weile dauert, bis man sich in die krude Welt von "Das Fest" eingelebt hat. Die wackelige Handkamera wirkt im ersten Moment wie in einem Amateurfilm, und auch die Schauspieler spielen so überzeugend ihre unsympathischen Rollen, dass man meint, es handelt sich um ein Originalvideo eines solchen Treffens. 

Was mich aber am meisten überzeugen konnte, war natürlich die Handlung an sich. Christians Versuche, sich mit seiner Geschichte Gehör zu verschaffen, trifft den ganzen Film lang auf Ablehnung und Hohn. Und ich saß vor dem Fernseher und ärgerte mich über die Ignoranz der Verwandten und der Selbstverständlichkeit, wie Christians eigentlich traurige Geschichte als Lüge abgetan und dem großen, übermächtigen Oberhaupt Helge beigestanden wird, ohne darüber nachzudenken. Erst am Ende, als der Brief von Christians Zwillingsschwester vorgelesen wird und in dem sie gesteht, dass sie Selbstmord begeht, um vor einem erneuten Übergriff von ihrem Vater nicht mehr ausgesetzt zu sein, erkennen die Verwandten ihren Fehler und meiden Helge. Ein schonungsloser Film ohne jede Freude, aber dafür ein extrem wichtiger Beitrag zu einem Thema, das heute leider immer noch tabu ist.